Weihnachtsbrief 2020
Liebe Kundinnen, liebe Kunden,
liebe Lieferanten und Freunde,
was für ein Jahr geht nun zu Ende.
Mit welcher Macht hat sich die Natur dieses Jahr Raum und Gehör verschafft! Ich frage mich jeden Tag: In was für einer Welt leben wir eigentlich?! Ob mit Antibiotika, Pestiziden, Anti-Schimmel-Spritzmitteln, chemischem Dünger oder Gentechnik – die Menschheit hat es sich angewöhnt die Natur zu dominieren und sich alles andere unter zu ordnen.
Da, wo jetzt noch Martin Clausens Demeter Bauernhof steht, wird in absehbarer Zeit eine neue Bundesstraße gebaut. Wie lange hat Martin dafür gekämpft, diesen Schnellstraßen-Bau aufzuhalten und seinen Demeter Hof zu erhalten! Da bemüht sich eine Familie jahrzehntelang, das eigene Stückchen Land gesund zu beackern, gesunde Lebensmittel hervorzubringen und die Erde zu schützen und fruchtbar zu halten – und dann entscheidet irgendeine Baubehörde, entgegen aller Fridays for Future Bewegungen, entgegen aller Klimawarnungen und allen Demonstrationen zum Trotz, dass eine noch größere, noch breitere Straße her muss, damit noch mehr Menschen mit dem Auto noch schneller durchs Naturschutzgebiet fahren können?!
Wer hat hier eigentlich was nicht verstanden?! Und vor allem: Wieso lernen sie nicht dazu? Wieso gilt es als Schwäche, Fehler einzugestehen und einen anderen Weg einzuschlagen?
Leider sind es nach wie vor die Entscheider in Politik & Verwaltung, in der Lebensmittelbranche, bei den Chemiekonzernen und in der Agrarindustrie, die einfach nicht verstehen wollen. Sie denken nur für ihr eigenes Menschenleben, für diesen kurzen Zyklus, in dem sie sich mit Geld und Macht vollsaugen und gewissenlos die Konsequenzen ihrer Fehlentscheidungen für nachfolgende Generationen in Kauf nehmen.
Ich bin auf einem Bauernhof in der Nähe von Magdeburg aufgewachsen. Meine Eltern haben den Hof konventionell bewirtschaftet, Kartoffeln, Rüben und Weizen angebaut. Je älter wir Kinder wurden, desto häufiger kam die Diskussion auf den Tisch: Was sind das für Mittel, die ihr da auf die Erde spritzt? In heftigen Streits hat mein Vater immer wieder beteuert, dass sie alle geprüft und gesundheitlich unbedenklich seien. Auch Jahrzehnte später beteuert mein überzeugt konventionell wirtschaftender Vater noch, dass die Spritzmittel und Dünger, die aufs Feld kommen, alle harmlos seien. Auf meine Frage, wie er sich es dann erkläre, dass genau die Chemie, die vor Jahren noch als gesundheitlich unbedenklich eingestuft und zur Nutzung freigegeben war, mittlerweile in Europa aufgrund des enthaltenen Gift-Cocktails und der nachgewiesenen Schädlichkeit verboten worden sei, gibt es keine Antwort. Es gibt nur wütendes Schweigen.
Der Hashtag #esgehtauchanders wurde dieses Jahr häufig benutzt. Das nervt mich nicht, im Gegenteil: es geht auch anders ist im Grunde die Kernbotschaft, die mein Leben, meinen Berufsalltag und auch jeden einzelnen Tag im Jahr 2020 geprägt hat. Es geht auch anders! Stück für Stück, jeden Tag ein bisschen weiter Richtung Zukunft.
Im Grunde spiegelt die Situation bei mir zuhause doch genau das wider, was uns in unserem gesamten Leben als „Ökos“ widerfährt. Große Konzerne wie Unilever werben mittlerweile mit ihrem „nachhaltigen“ Weg, der Begriff „Nachhaltigkeit“ wird inflationär genutzt. Der große Unterschied zu Bio? Nachhaltigkeit ist kein geschützter, streng kontrollierter Begriff. Hier wird nichts kontrolliert, als nachhaltig kann sich jeder bezeichnen, dem es gerade dienlich ist. Bio wird immer unterstellt, das „könne ja sowieso keiner kontrollieren“ und „da wird doch sowieso geschummelt“. Die Nachhaltigkeit, mit der sich Unternehmen schmücken, versucht erst gar keiner zu kontrollieren, dennoch ist dieser Begriff in aller Munde und keiner möchte mehr zugeben, dass die eigene Lebens- oder Arbeitsweise alles andere als „nachhaltig“ ist.
Mittlerweile kann man sogar schon „Nachhaltigkeitsbeauftragter“ werden, eine offenbar recht beliebte Zweitkarriere. Es gibt eine Reihe von anschaulichen Beispielen: der erste in dieser Reihe war Matthias Berninger. Wir berichteten darüber in unserer all-donnerstäglichen Wocheninfo: Berninger war mal parlamentarischer Staatssekretär (Bündnis 90/Die Grünen) und ist dann zum Süßwarenkonzern Mars Incorporated gewechselt. Zuständig für „Gesundheit, Ernährung und Nachhaltigkeit“. Von Mars ist er dann zur Bayer AG gegangen und seitdem Leiter des Bereichs „Öffentlichkeit und Nachhaltigkeit“. Ein anderer Grüner, der ehemalige „Präsident“ des Anbauverbands Bioland und Ex-Abteilungsleiter des niedersächsischen Landwirtschaftsministeriums Thomas Dosch, hat sich ebenfalls für eine lukrative Zweitkarriere entschieden: seit 01.10.2020 ist er beim Industrie-Schlachtbetrieb Tönnies dafür zuständig, die „Weiterentwicklung einer nachhaltigen Ernährungs- und Agrarwirtschaft zu unterstützen“.
Nachhaltigkeit kann man jetzt sogar schon studieren: an der Fachhochschule Münster beispielsweise, im Fach „Nachhaltige Verpflegungsdienstleistungen“. Dozent: Rainer Roehl. Rainer Roehl, ursprünglich wie Herr Dosch und Herr Berninger anerkannt grün angehaucht, steht mittlerweile für den Handelskonzern ChefsCulinar auf der Gehaltsliste und „verbindet dort die Aspekte „Genuss“ und „Gesundheit“ mit den klassischen Themen einer nachhaltigen Entwicklung zu einem schlüssigen Ganzen“. Frei nach dem Motto, was sich kompliziert anhört, muss ja gut sein?
Wie eingangs schon bemerkt: wer prüft das jetzt nach? Wer misst den „Nachhaltigkeits-Grad“? Wer misst den Erfolg dieser Maßnahmen; wer kontrolliert, dass außer Greenwashing wirklich etwas passiert?
Die Mail, die ich von Martin Clausen erhielt, nachdem Tönnies Herrn Dosch als neuen Nachhaltigkeitsbeauftragten vorstellte, möchte ich Ihnen und Euch nicht vorenthalten:
Donnerstag, 15.10.2020 um 15:04 Uhr:
„Ja, ich mochte es dir bisher nicht sagen, aber ich werde ab Anfang des Jahres auch die Branche wechseln. Monsanto hat endlich für Tomaten die Spritzmittel der dritten Generation entwickelt und die sollen, zusammen mit dem passenden Dünger, jetzt auch endlich in der Biobranche Fuß fassen.
Ich habe mich als Vertreter beworben und habe einen gut dotierten Posten erhalten, zumal mein Bild DAS Gesicht dieser Mittel werden soll.
Bis denn
Martin“
Saubere Luft zum Atmen, sauberes Wasser, etwas zum Essen. Das sind natürlich eigentlich keine Themen über die wir zum Scherzen aufgelegt sind. Darauf, dass allen Lebewesen diese drei Grundbedürfnisse stets zur Verfügung stehen, sollte sich die Nachhaltigkeitsbewegung schließlich konzentrieren! Die westlichen Nationen haben sich so daran gewöhnt, dass Essen im Übermaß zur Verfügung steht, während Millionen Menschen hungern müssen, dass das schlechte Gewissen mit einer weihnachtlichen Spende für Brot für die Welt oder die Welthungerhilfe befriedigt wird.
Smog in Indien, Pakistan oder der Türkei reißt längst niemanden mehr vom Hocker. Sauberes Wasser? Kommt in Mengen aus der Leitung und wird sogar zum Autowaschen benutzt.
In der Corona Krise freuten sich viele über die „besonders klare Luft“, es kamen Meldungen, in China, den USA und Kanada seien die Stickoxid-Werte so niedrig wie zuletzt vor Jahrzehnten.
Was wir nicht merken: Unsere Luft, hier in Deutschland, ist längst nicht mehr sauber, Corona hin oder her. Man riecht es ihr nur leider nicht an!
Das bisher umfangreichste Messprogramm für luftgetragene Pestizide in Deutschland hat 2020 schwarz auf weiß hervorgebracht, worüber ich mit meinem Vater seit 20 Jahren streite: Unsere gesamte Atemluft ist durch konventionelle Pflanzenschutzmittel verpestet und selbst mitten in der Stadt oder im tiefsten Naturschutzgebiet atmen wir ständig Ackergifte ein.
Und sauberes Wasser? Jeder 7. deutsche Brunnen liegt über dem erlaubten Nitratwert! Egal nach welchem Ort in Niedersachsen man sucht, in den Prüfergebnissen der Trinkwasseranalyse findet sich ein Cocktail an Pestizidrückständen im Wasser.
19 Cent/Liter kostet die Reinigung des Wassers, damit es für uns wieder zu Trinkwasser wird. Da soll mir nochmal jemand damit kommen, dass „Bio so teuer“ sei!!! Ob Bassum, Twistringen oder irgendein anderer Ort in Niedersachsen, Metazachlor-Sulfonsäure, Aminomethylphosphonsäure, Chloridazon-Desphenyl und Dimethylsulfamid sind schon da. Nitrat sowieso.
Etwas zu essen und zu trinken haben wir hier alle, Luft zum Atmen ebenfalls. Aber zu welchem Preis!
„Das Mittel wird als bienengefährlich eingestuft.“ Dieser Satz stand auf jedem einzelnen der Spritzmittel, die mein Vater als konventioneller Kartoffelbauer so benutzt hat. Auf den Internetseiten von Bayer Agrar empfehle ich, einmal den Produktfinder auszuprobieren. Danach, wenn man sich von den Risiken und Nebenwirkungen der Produktdatenblätter der Ackergifte erholt hat, kann man sich dann noch das „Bekenntnis zur Nachhaltigkeit“ der Bayer AG durchlesen. Wieso dürfen sich solche Konzerne, die die Wurzel des Problems darstellen, eigentlich öffentlich selbst so beweihräuchern?!
Ich würde mich sehr freuen, Sie und Euch an dieser Stelle herzlich zur persönlichen Diskussion dieser und weiterer Fragen hier bei uns im NKK einzuladen, am liebsten auf unserer großen Jubiläumsfeier, denn 2021 wird das Naturkost Kontor 30 Jahre alt!
Ob und wie wir feiern ist nur leider aufgrund von Corona noch unklar. Was hat sich geändert in 30 Jahren Bio? Auf den Höfen? In der Bio-Szene? Die Luft-, Boden- und Wasserverschmutzung ist konkret mess- und nachweisbar und kann und darf 2020/21 nicht mehr als Hirngespinst esoterisch-langhaariger Bio-Müsli-Esser abgetan werden.
Bis 2020 war mir persönlich zum Beispiel gar nicht bewusst, dass es Konzerne wie ChefsCulinar gibt, die allen Ernstes Tiefkühl-Spiegeleier anbieten – und auch Restaurants, die sowas dann servieren! Auch mit der Herstellung konventioneller Weihnachtssternpflanzen hatte ich mich bis dato nicht befasst. Egal, wohin man schaut, es gibt überall etwas zu tun! Ich bin mir sicher: wenn alle Menschen wüssten, wie konventionelle Kartoffeln angebaut werden, würde sie keiner mehr essen wollen; wenn alle Menschen wüssten, was in einem konventionellen Weihnachtsstern drinsteckt, bis er im eigenen Wohnzimmer landet, würde ihn niemand mehr als Dekoration haben wollen.
Es ist „nur“ eine Frage des Wissens. Wir von NKK haben jahrelang rote Fleecejacken getragen, ohne uns darüber auch nur bewusst zu sein, dass mit jeder Wäsche Mikroplastik in unser Wasser gelangt. Nun haben wir 2020 lange damit zugebracht, eine Alternative zu finden, die uns ebenso warm hält und nicht so umweltschädlich ist. (Gefunden haben wir sie bei der Schäfereigenossenschaft Finkhof). Ich will damit sagen: egal, wie sehr man versucht, alles richtig zu machen – es tauchen jeden Tag Verbesserungsmöglichkeiten auf. Dann heißt es dranbleiben und nicht den Kopf in den Sand stecken.
Im offenen Brief des Bundesverband Naturkost Naturwaren e.V. an die Lebensmittelwirtschaft und die Politik vom 09.12.2020 wird an alle Unternehmen appelliert, ihre Leitprinzipien sofort auf Zukunftstauglichkeit umzustellen. Für eine Umwelt, in der es sich zu leben und zu wirken lohnt und zum Wohle der Gesellschaft.
Auch wir werden im Jahr 2021 weiter alles daransetzen, das Naturkost Kontor noch zukunftstauglicher zu gestalten. Ich freue mich, wenn Sie und Ihr uns auch weiterhin auf unserem Weg begleitet und wir gemeinsam in diese Zukunft gehen. Sie erscheint zu diesem Zeitpunkt wohl so ungewiss wie selten zuvor.
Auch für unsere Gesellschafter und Gründer stehen in der Zukunft einige Fragezeichen. Heino Cordes, Martin Clausen, Hermann Meyer-Toms und Ernst Röhrs sind alle leidenschaftlich auch weiterhin auf ihren Höfen eingespannt. Bei Martin stehen die Zeichen auf Neuanfang, er hat sich entschieden, in Riede einen neuen Demeter Hof aufzubauen. Ernst ist voll mit der Hofübergabe beschäftigt und möchte den Auehof Reese in eine familiengeführte Zukunft begleiten. In Hermanns Hofladen hat die Zukunft mit Pauken und Trompeten Einzug gehalten, der www.hofladen-im-netz.de hat einen besseren Online-Shop als das NKK selbst... Heino als unser Ältester ist vollauf in den eigenen Hof und die Einführung der nächsten Generation eingebunden. Es bleibt also spannend!
In diesem Sinne möchte ich mich im Namen der Gesellschafter sowie aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des NKK bei Ihnen und Euch für eure Treue und die tolle Zusammenarbeit im Jahr 2020 bedanken. Ich wünsche Ihnen und Euch besinnliche Weihnachten und für das neue Jahr alles Gute, Glück und vor allen Dingen natürlich Gesundheit.
Knut Schaeper, Bremen, 16.12.2020
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